Kurioses Transnistrien – eine Reise in Russlands zweite Exklave

Transnistrien ist ein kleiner Streifen Land mit einem großen Konfliktpotenzial. Obwohl die Mehrzahl seiner Bewohner russisch- oder ukrainischstämmig ist, gehört das Gebiet weder der Russischen Föderation noch der benachbarten Ukraine an. Zum Verdruss sowohl des größten Teils der Bevölkerung als auch der politischen Führung in Tiraspol: rein formal nämlich ist Transnistrien Teil der Republik Moldau, mit der die meisten hier jedoch seit 1992 nichts mehr zu tun haben wollen.

Dabei ist der Konflikt um den abtrünnigen Gebietsstreifen östlich des Flusses Dnjestr nicht nur eine innermoldauische Angelegenheit – auch im Zuge der Ukraine-Krise gewinnt sein Name zunehmend an Bedeutung. Denn Transnistrien grenzt nicht nur an die Ukraine, es liegt auch in direkter Nachbarschaft zu einer der bedeutendsten russischsprachigen Städte des Landes: der Hafenstadt Odessa. Als es dort im Mai des Vorjahres zu Straßenschlachten zwischen Anhängern und Gegnern der pro-westlichen Führung in Kiew kam, fanden sich zahlreiche Mitstreiter aus Transnistrien auf Seiten der pro-russischen Demonstranten ein. Nachdem viele von ihnen beim Brand eines Gewerkschaftshauses ums Leben gekommen waren, kehrte lange Zeit gespannte Ruhe ein. Doch eine Reihe von radikalen Maßnahmen der ukrainischen Führung droht die schlecht verheilten Wunden wieder aufzureißen. So fragte der SPIEGEL vor wenigen Tagen in seiner Online-Ausgabe, ob in Transnistrien Europas nächster Krieg drohe. Hintergrund der Befürchtungen ist dabei nicht nur die Ernennung des in seiner Heimat wegen Amtsmissbrauchs gesuchten Georgiers Mikhail Saakaschwili zum Gouverneur von Odessa. Auch die von der Werchowna Rada beschlossene Kündigung eines Abkommens, das Russland die Versorgung seiner in Transnistrien stationierten Truppen auf dem Landweg ermöglicht, gibt Anlass zur Sorge – ebenso wie die Reaktion einiger Kreml-Hardliner auf diese de-facto-Blockade Transnistriens.

Reise in ein Land vor unserer Zeit

Um zu verstehen, warum russische Truppen östlich des Dnjestr stationiert sind und in einem Gebiet patrouillieren, das hunderte Kilometer von den Grenzen der Russischen Föderation entfernt liegt, muss man sich auf eine kleine Zeitreise begeben. Diese tritt man zwangsläufig an, sobald man die von Moldau nicht anerkannte und daher auch nicht überwachte Grenze nach Transnistrien überquert. Es grüßt mit Hammer und Sichel eine Staatssymbolik, die seit 1991 eigentlich ausgestorben geglaubt war. Doch in der Tat ist das Schild am Grenzübergang, welches mit seinem Wappen die Sowjetunion überlebt hat, kein Irrtum. Die gleichen Symbole finden sich nämlich auch auf Geldscheinen und Münzen, denn Transnistrien hat nicht nur eine eigene Staatssymbolik, sondern auch eine eigene Währung. Eigene Nummernschilder übrigens auch, genauso wie eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament, eine eigene Armee und eigene Briefmarken. Letztere erinnern, wenn auch in größerer Variation, mit ihren Motiven an die gleiche Epoche wie die Geldscheine und Münzen; dem Besucher geben sie so den Eindruck, in einem „Land vor unserer Zeit“ gelandet sind. Einem Land, das außer seinen Schicksalsgefährten in der Gemeinschaft nicht-anerkannter Staaten (Abchasien, Südossetien und Bergkarabach) niemand als solches anerkennt. Das gilt übrigens auch für Russland, das überdies bereits zweimal den Ruf Transnistriens nach Aufnahme in die Russische Föderation überhörte – zuletzt im vergangenen Jahr, als sich mit Michail Burla der Sprecher des transnistrischen Parlaments mit einem entsprechenden Gesuch an den Vorsitzenden der russischen Duma, Sergej Naryschkin, wandte. Es ist davon auszugehen, dass Russland Transnistrien lieber als Teil einer föderalisierten Republik Moldau sehen will, da dies Moskau einen Hebel zur Einflussnahme auf die Politik der verarmten Ex-Sowjetrepublik gewährt und verhindert, dass diese der NATO beitritt.

Die russische Geschichte Transnistriens und die Ängste vor einer Rumänisierung

Wer nun die Wiege des kleinen Staates, der eigentlich keiner ist, finden will, der muss sein Geschichtsbuch auf einer der Seiten aufschlagen, die von der russischen Westexpansion des 18. Jahrhunderts berichten. Als das Osmanische Reich zunehmend begann, sich zum „kranken Mann am Bosporus“ zu entwickeln und Jahr um Jahr mehr Territorium in Europa einbüßte, profitierte davon unter anderem das aufstrebende Russische Reich. Im Friedensvertrag von Jassy wurde 1792 alles Land östlich des Flusses Dnjestr Russland zugeschlagen; die russische Geschichte Transnistriens beginnt hier. Das westlich des Dnjestr gelegene und heute weitgehend mit dem Rest der Republik Moldau übereinstimmende Bessarabien folgte zwei Jahrzehnte später. Als im Zuge der Revolutions- und Kriegswirren von 1918 Rumänien die Gunst der Stunde nutzte, um sich Bessarabien einzuverleiben, begann erneut eine getrennte Entwicklung der Gebiete östlich und westlich des Dnjestr. Transnistrien blieb bis 1940 als Teil einer autonomen Republik innerhalb der Ukrainischen SSR bestehen, was seinen slawischen Charakter stärkte. Als die Sowjetunion sich daran machte, durch Besetzung Bessarabiens ihren Teil des Hitler-Stalin-Paktes umzusetzen, hatte dies deutliche Folgen. Zum ersten Mal nämlich wurde aus Transnistrien und Bessarabien eine gemeinsame Einheit geformt, die einen autonomen Charakter hatte. Abgesehen von dem rumänischen Intermezzo zwischen 1941 und 1944 bestand diese Moldauische SSR innerhalb der Sowjetunion bis 1991 als autonome Teilrepublik fort.

Der Aufschwung einer an Rumänien orientierten Nationalbewegung Ende der 1980er Jahre und der westliche Charakter des Systemwandels alarmierten die nationalen Minderheiten des Landes. Nach der moldauischen Unabhängigkeit sah man das Damoklesschwert einer Rumänisierung über dem slawophonen Landesteil schweben. In Chisinau konkurrierten die Anhänger einer moldovanistischen Geistesströmung, die die Existenz einer eigenständigen moldauischen Kultur und Sprache betonten, mit denen einer romanistischen Strömung. Als es so aussah, dass Letztere sich mit ihrer Forderung eines rumänisch-moldauischen Zusammenschlusses durchsetzen könnten, schlug die Stunde der Separatisten in Tiraspol. Ungeschickte Schritte der neuen moldauischen Regierung – wie die Proklamation des Rumänischen zur alleinigen Staatssprache – erinnern nicht nur an die ersten Fehler des Euromaidan, sondern gingen auch mit ähnlichen Konsequenzen einher.

Transnistrien spaltete sich von der Zentralregierung in Chisinau ab, Chisinau reagierte mit Panzern und Truppen. In einem kurzen, aber heftigen Bürgerkrieg gelang es den Rebellen, sich mit Hilfe von Einheiten der russischen 14. Gardearmee unter General Alexander Lebed zu behaupten. Seitdem ist der Konflikt „eingefroren“ – mit anderen Worten: es ist keine Lösung für ihn in Sicht, aber es ist seither auch nicht zu neuen Kämpfen gekommen.

Leben in einem nicht anerkannten Staat

Wie es sich wohl lebt in einer nicht anerkannten Republik, die einen kompletten Epochenwandel verpasst hat, mögen sich Beobachter fragen. Die Antwort liegt in der Rolle Russlands: Da Moskau ein Interesse daran hat, den Landstreifen am Leben zu halten, liefert es günstig Energie und zahlt einen Teil der Renten. Blickt man sich in der Hauptstadt Tiraspol um, stößt man nicht nur auf sozialistische Straßennamen und große Leninstatuen wie die vor dem Obersten Sowjet. Auch eine beachtliche Zahl gemütlicher Cafés und Restaurants mit frischen Köstlichkeiten aus dem Schwarzen Meer umrandet saubere Straßen und Bürgersteige. Ein Spaziergang durch Chisinau, anschließend an einen Gang durch Tiraspol – das wirft unmittelbar die Frage auf, in welchem der beiden Landesteile der Bürgerkrieg von 1992 tatsächlich tobte. Hinzu kommt, dass das Gebiet keineswegs so isoliert ist, wie man meinen könnte. Immerhin ermöglichen mehrere Busverbindungen mit Chisinau und Odessa eine Anbindung an den Rest der Welt. Auch eine Eisenbahnstrecke existiert noch, wenngleich diese äußerst sanierungsbedürftig ist.

Die Versorgung der Bevölkerung mit fast allem übernimmt das Unternehmen Sheriff, dessen allgegenwärtige Präsenz ein weiteres, mit Transnistrien verbundenes Kuriosum darstellt. Zu Sheriff gehören neben einer Tankstellen- und einer Supermarktkette auch ein Fernsehsender, das Tiraspoler Kasino, ein Verlagshaus und der einzige Mobilfunkbetreiber Transnistriens, das Telekommunikationsunternehmen „Interdnjestrkom“. Der Fußballverein FC Sheriff Tiraspol, ebenfalls im Besitz der Gründer von Sheriff, spielt regelmäßig in der Champions-League-Qualifikation um einen der begehrten Startplätze und hat bereits den einen oder anderen Favoriten geärgert. Das Juwel der Sheriff-Gruppe aber ist die Wein- und Spirituosenfabrik Kvint. Der Weinbrand aus diesem Hause ist weltberühmt und für die Identität der Region so essentiell, dass eine Abbildung der Kvint-Fabrik sogar Platz auf dem transnistrischen 5-Rubel-Schein gefunden hat. Überhaupt scheinen in der Region die Bedingungen für Weinbau exzellent zu sein. So hat das kleine Moldawien nicht nur die größte unterirdische Weinlagerstätte der Welt, sondern zählt auch zu den weltweit 10 größten Weinexporteuren. Dass 82 % dieser Exporte allerdings in die Länder der Eurasischen Zollunion gehen, macht das Land angreifbar, wie in der Vergangenheit wiederholt aufgetretene „Weinkriege“ mit Russland zeigten.

Transnistrien hingegen braucht sich um einen Wirtschaftsboykott durch Russland keine Sorgen machen. Wohl aber um den Schatten der Ukraine-Krise, der sich auch über Tiraspol legen könnte. Abgesehen von den traditionell zahlreichen uniformierten Einheiten auf den Straßen von Transnistriens Städten weckt alles noch den Anschein von Normalität. Eine Normalität, die jedoch bald ihr Ende finden könnte, wenn sich die düsteren Prophezeiungen eines von Osten her aufziehenden Gewitters bewahrheiten sollten.

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